Sechzehn? Hundertfünfzig? Neunhundert? Von Edition zu Edition ist die Zahl an Zaubersprüchen bei DSA immer weiter angewachsen. Aber welche Menge ist optimal? Ein Überblick.
von Anton Weste
Mit dem Grimorum Cantiones erschien für DSA ein Band, den Spieler der 5. Edition lange ersehnt haben: Die Sammlung sämtlicher Zaubersprüche in einem Band. Bei DSA 1 kamen noch alle Zaubersprüche gemeinsam mit den übrigen Regeln in einem dünnen Band unter. Aber seit DSA 2 beanspruchten sie eigene Kompendien – und die wuchsen immer weiter im Umfang. Zeit für einen Überblick zur Geschichte der Zauberformeln beim Schwarzen Auge. Den ersten Teil dieses Artikels, der die Entwicklung bis 1994 betrachtet, findest du hier.
DSA 3: Eine magische Welt braucht Zaubersprüche
Mit DSA 3 kamen noch mehr Zauber hinzu. 230 Zaubersprüche und 86 Traditionszauber und –rituale bedeuteten eine Verdopplung der magischen Handlungen im Vergleich zur Vorgänger-Edition. Nun fühlte sich auch die DSA-Redaktion bemüßigt, diese Fülle anzusprechen und erörterte die Entwicklung im Magie-Vorwort der Box Götter, Magier und Geweihte von 1994:
„Mit Erscheinen des neuen Magie-Regelwerks erhöht sich die Zahl magisch begabter Heldenfiguren auf ein gutes Dutzend. Weit über 200 Zaubersprüche und -rituale stehen dem aventurischen Magiekundigen nun zur Verfügung. Dies ist eine Entwicklung, die man durchaus mit gemischten Gefühlen betrachten kann. So beglückend es für den einen Spieler sein mag, aus einer schier unendlichen Fülle magischer Möglichkeiten zu wählen, so mißtrauisch mag ein anderer DSAler diese Textflut betrachten und sich fragen, ob das Spiel nicht im Begriff ist, Spielern und Autoren über den Kopf zu wachsen. Denn, so sagt der Pessimist, brauche ich tatsächlich 200 Sprüche? Hat das Spielen seinerzeit mit den 13 Originalformeln und den fünfen, die wir für unsere Runde selbst entwickelt hatten, nicht genauso viel Spaß gemacht? Bei diesen harmlosen fünf Selbstgemachten aber, lieber Leser, liegt der Hase im Pfeffer (bzw. sitzt die Kröte auf dem Hexenbesen): Sie hätten uns die fünf Zauber nicht schicken sollen! Sie nicht, und auch nicht die hundert anderen Spieler, die – jeder für sich – eine Handvoll hübscher Sprüche eingesandt haben, so sinnvolle und nett formulierte Zauber, daß wir sie unmöglich fortwerfen konnten. Hinzu kamen die unzähligen Briefe, in denen gefordert wurde, die Hexe müsse endlich mehr Macht und mehr Möglichkeiten bekommen, das Angebot an Magierakademien und Haussprüchen sei zu klein, die Druiden stünden im Vergleich zum Magier zu schlecht da, für die Elfen müsse endlich etwas getan werden usw. usf., und schließlich die neuen Zauber und Rituale, die aus den Magiern unserer Redaktionsrunde stetig hervorsprudelten. Wenn man aus all diesen Angeboten mit strenger Hand die überflüssigen Formeln aussortiert und wahrhaftig nur die allerbesten aufbewahrt, so kommt doch immerhin noch die Menge zustande, die Sie nun vor Ihren Augen ausgebreitet sehen. Also murren Sie nicht – Sie haben es letztlich so gewollt!“
DSA 3 formte die erste Hochblüte der Magie in Aventurien. Magische Traditionen bekamen dichte und vernetzte Hintergründe, Dämonen, Sphären und Kosmos enthüllten ihre Geheimnisse und deuteten viele weitere an, Hintergründe des Magiewirkens wurden durchdachter und atmosphärischer. Nicht umsonst ist Götter, Magier und Geweihte noch heute eine der beliebtesten DSA-Publikationen. Gelungen war auch, dass DSA diese reichhaltigere Welt des Übernatürlichen nicht für den luftleeren Raum entwickelte, sondern auch gleich die passende Abenteuerkampagne inklusive wuchtiger Metaplot-Ereignisse lieferte: Die monumentale Borbarad-Kampagne wäre ohne ihren magischen, dämonischen und göttlichen Unterbau aus der DSA3-Magiebox nur halb so schön geworden. Hier konnte man die zahlreichen Möglichkeiten des Regelwerks auch gleich in die Anwendung umsetzen.
DSA 4: Da geht noch was
Also war es dann jetzt mal genug mit über 200 Zaubern für DSA? Nein, weder im offiziellen DSA noch in einzelnen Spielrunden. Daran habe auch ich meinen Anteil. Die obige Erwähnung von Spielern, die sich ihre eigenen Zauber ausdachten, traf auch auf mich zu. Mit Leidenschaft formulierte ich in offiziellen Publikationen angedeutete Zauber aus oder entwickelte sie komplett neu. In der (nie veröffentlichten) Spruchsammlung ‚Liber Carminis’ trugen Mitstreiter und ich um die 100 neue Formeln für DSA 3 zusammen.
Auch als Autor für die offizielle Produktlinie steuerte ich meine Ideen bei und könnte mich nicht erinnern, wesentlich für ein Zusammenstreichen der Zauberanzahl eingetreten zu sein. DSA 4 erschien mit der Box Götter & Dämonen respektive den DSA-4.1-Bänden Wege der Zauberei und Liber Cantiones. 268 Zaubersprüche sowie stolze 211 Traditionszauber und –rituale standen dem Spiel nun zur Verfügung. Im Vergleich zu früheren Editionswechseln war das Spruchwachstum moderat, dafür verdreifachten sich die Traditionszauber und –rituale fast. Dabei wurde nicht nur stetig hinzugefügt. In seltenen Fällen wurden mehrere Zauber zu einem zusammengelegt. So waren beispielsweise in DSA 3 der Saft, Kraft, Monstermacht und der KARNIFILO RASEREI – Wahn und Blutdurst werdet frei! beides Formeln, die einen Kämpfer zum Berserker machen konnten. Für DSA4 wurden beide Sprüche unter dem Namen des KARNIFILO RASEREI zusammengefasst. Wo bei DSA 2 und DSA 3 für zeitweilige Eigenschaftssteigerungen jede der fünf beziehungsweise sieben gute Eigenschaften einen eigenen Zauber spendiert bekam (CHARISMA, PERSÖNLICHKEIT – Hochgeachtet weit und breit; FINGERSPIEL UND SCHNELLE HAND – Größte Kunst im ganzen Land; MUSKELSPIEL UND KÖRPERKRAFT – Mächt’ger Leib, der Neues schafft; ...), fasste DSA 4 diese Sprüche zu einem zusammen: dem ATTRIBUTO.
Den dicken Rotstift setzte DSA 4 bei den Zaubernamen an: Die Reime verschwanden. Tschüss, BALSAM SALABUNDE – Heile Wunde, hallo BALSAM SALABUNDE. Wiedersehen, SILENTIUM SILENTILLE – Über allem liege Stille!, guten Tag, SLENTIUM SCHWEIGEKREIS. Erschaffe ich Chimären mit dem MUTABILI HYBRDIDIL – Forme dich, wie ich es will? Nein, mit dem CHIMAEROFORM HYBRIDGESTALT. Wo viele Formelnamen bislang eine Kurzbeschreibung der Zauberwirkung lieferten, brachte die Verkürzung etwas Rätselraten. SCHWARZ UND ROT – bald bist du tot! wurde zu SCHWARZ UND ROT. Der KLARUM PURUM KRÄUTERSUD – Frei von Gift wird alles Blut hieß nur noch KLARUM PURUM.
So weit ich weiß, stellte keine DSA-Edition den Anspruch, jemals sämtliche tatsächlich in Aventurien existierenden Zauberformeln vorzustellen. Die einzelnen Formelsammlungen waren stets eine inneraventurische Auswahl. Irgendwo schlummerten und schlummern noch immer alte, vergessene Canti, machtvolle Fähigkeiten, die nur Verhüllten Meistern bekannt waren und Neuentwicklungen findiger Zauberdrechsler. Das Vorwort des Liber Cantiones von 2008 adressierte das auch direkt:
„Auf den folgenden Seiten finden Sie die Beschreibungen und ‘technischen Daten’ der bekanntesten aventurischen Zaubersprüche in alphabetischer Sortierung. Diese Liste ist nicht vollständig und kann es auch nicht sein, da die Möglichkeiten der Zauberwerkstatt (siehe das gleichnamige Kapitel im Band Wege der Zauberei) zum steten Anwachsen des möglichen Spruchkanons führen. Da es aber eine geraume Zeit dauert (selbst in der akademischen Gemeinschaft der Magier), bis sich ein erfolgreich konstruierter neuer Zauber ‘herumgesprochen’ hat, kann dieser Band nur eine ‘Momentaufnahme’ bieten – in diesem Falle aus dem Jahr 1027 BF.“
DSA 5: Die Rückkehr der Reime (wenn man möchte)
DSA 5 stellte die Zauberei wieder auf ein neues Fundament und versuchte sich an verschiedenen regeltechnischen Vereinfachungen. Zu einer Verminderung der Zauberanzahl führte das aber nicht, eher im Gegenteil: Dadurch, dass die einzelnen Zaubersprüche weniger Varianten aufwiesen, ließen sie im Zauber-Ökosystem Lücken. Diese wurden wiederum durch neue, ebenso einfach strukturierte Zauber gefüllt.
Die Spruchzauber wurden nun nach ihrer Komplexität und Wirkmächtigkeit eingeteilt in simple Zaubertricks, gewöhnliche Zauber und lang andauernde Rituale. Wie viele es letztlich werden würden, war lange unklar. Doch das das Grimorum Cantiones setzt mit seinem Komplettierungsgedanken dem opulenten Füllhorn aventurischer Spruchzauberei nun ein würdiges Denkmal. 448 Zaubersprüche sind hier versammelt, davon 111 Zaubertricks, 263 Zauber und 74 Rituale. Hinzu kommen für DSA 5 noch weitere 449 Traditionsrituale und –zauber, von den gildenmagischen Stabzaubern über Animistenkräfte, Zibillja-Ritualen und Zaubermelodien bis hin zu Zaubertänzen. Fast 900 verschiedene Zauberhandlungen sind damit die vorläufige Spitze der Vielfalt.
Fand die Beschreibung der meisten DSA-5-Zauber bislang auf dem Bruchteil einer Druckseite Platz (so ließen sie sich auch gut auf den begrenzten Platz der DSA-Spielkarten drucken), gibt das Grimorum nun viel Fleisch auf die Knochen. Neue oder wiederaufgelegte Details sorgen für Atmosphäre am Spieltisch: Für jeden Zauber ist vermerkt, welche Formel und Geste die Angehörigen einzelner Zaubertraditionen nutzen, wenn sie den Spruch wirken. Aufgeführt sind auch die Namen des Zaubers in mehreren Sprachen – Garethi, Bosparano, Tulamidya und Thorwalsch. Für einige Zauber kommt noch das bei Schwarzmagiern beliebte Zhayad hinzu. Und nicht zuletzt kehren die Reime zurück für diejenigen, die sie am Spieltisch nutzen möchten: Ein neunseitiger Anhang spendiert jedem Zauber eine alternative Reimformel – und zwar auch denjenigen Zauber, die seit DSA 4 neu hinzukamen und nie zuvor eine besessen hatten.
Den Zauber nicht verlieren
Ach ja, und die einleitende Frage? Ist eine Vielzahl an Zaubern irgendwann ein Zuviel? Zum Glück knallt niemand Neuspielerinnen und Neuspielern die 500 Seiten des Grimorum auf den Tisch und sagt „Das liest du und lernst es auswendig! Dann darfst du einen magischen Charakter spielen.“
Wer mit DSA anfängt, betritt bei DSA 5 die Spielwelt oft mit dem reduzierten Zauberangebot der Einsteiger-Box Das Geheimnis des Drachenritters (13 Zauber plus 2 Stabzauber). Das ist schnell erlernt.
Wer mit dem Regelwerk beginnt, hat schon eine größere Auswahl (12 Zaubertricks, 45 Zauber, 6 Rituale, 36 Traditionszauber und -rituale). Den einzelnen magischen Traditionen – Elfen, Gildenmagier, Hexen – sind davon jeweils etwa ein Drittel zugänglich, sodass Spieler nur diese Zauber im Blick haben müssen.
Für die Meisterin ist es schon etwas mehr Stoff, der berücksichtigt werden will. Doch immerhin lassen sich nahezu alle DSA-5-Abenteuer allein mit der Zauberauswahl aus dem Regelwerk spielen. Alle Zauber, die für die Handlung dazukommen, sind im jeweiligen Abenteuer extra beschrieben.
Es bleibt also bei der Freiwilligkeit, sich begeistert noch tiefer in die Formelfülle zu stürzen. Aventurische Magie I – III bzw. der angekündigte Kodex der Zauberei sind ebenso wie das Grimorum Cantiones optionale Erweiterungen. Hier kann jeder Spieltypus auf seine Kosten kommen: Die Nekromantenspielerin, die sich über viele Methoden zur Untotenerhebung freut. Der Hexenspieler, der genau plant, welche Zauberstile oder Flüche er noch erlernen möchte. Und der Komplettist, der alle Zauber durchliest und zu gerne ihre Effekte und Hintergrundimplikationen mal im Spiel aufgreifen möchte.
So lange die Fülle modular und nicht verpflichtend ist, wird sie sich gut mit dem Spiel vertragen lassen. Und es ist nahezu gleich, wie viele Formeln der Kanon bereits enthält: Es wird immer kreative Spielerinnen und Spieler geben, die noch weitere Zaubersprüche nach ihrem persönlichen Geschmack erfinden. Sie ersinnen sie gerade jetzt, in diesem Moment, vielleicht kurz nach einer Lektüre des Grimorum Cantiones. Darum bleibt als abschließende Frage für nur noch:
Knackt DSA 6 dann endlich die 1000?
In diesem Sinne: BANNBLADIN.
2 Kommentare
Sehr interessant diese Reise durch die DSA-Zauberei-Epochen. Gerade so Details wie Vebreitungsgrade oder -Gebiete, in welchem Zauberbuch ein seltener Spruch zu finden oder zu rekonstruieren ist, welche Varianten ausschließlich von Großmeisterin X gelehrt würde etc. – das hat für mich den Liber Cantiones ausgemacht und ihn zu einem besonders schönen Buch für den Spielbuch gemacht. Diese Details nämlich sind ja eigentlich kleine Abenteuer-Aufhänger, lassen Spielerin und Spielfigur gleichermaßen träumen vom Abenteuerleben, der Vision einst eine berühmte Akademie zu besuchen, eine gefährliche Region zu bereisen, Freundschaft mit einem bestimmten NSC zu suchen. Jedenfalls waren diese Aspekte für mich immer deutlich interessanter als Reichweitenmodifikatoren, Zauberdauern, Boni und Zuschläge je Umgebungstyp usw.
Sehr interessant diese Reise durch die DSA-Zauberei-Epochen. Gerade so Details wie Vebreitungsgrade oder -Gebiete, in welchem Zauberbuch ein seltener Spruch zu finden oder zu rekonstruieren ist, welche Varianten ausschließlich von Großmeisterin X gelehrt würde etc. – das hat für mich den Liber Cantiones ausgemacht und ihn zu einem besonders schönen Buch für den Spielbuch gemacht. Diese Details nämlich sind ja eigentlich kleine Abenteuer-Aufhänger, lassen Spielerin und Spielfigur gleichermaßen träumen vom Abenteuerleben, der Vision einst eine berühmte Akademie zu besuchen, eine gefährliche Region zu bereisen, Freundschaft mit einem bestimmten NSC zu suchen. Jedenfalls waren diese Aspekte für mich immer deutlich interessanter als Reichweitenmodifikatoren, Zauberdauern, Boni und Zuschläge je Umgebungstyp usw.